Um es gleich vorweg zu nehmen, und um nichts zu beschönigen, auch
wenn viele spannende, lustige und wunderschöne Dinge passiert sind: Die letzten
zwei Wochen, meine ersten zwei Wochen in Israel waren unheimlich anstrengend.
Es fühlt sich viel länger an als das, so unendlich viel ist passiert.
Gleichzeitig scheint alles viel kürzer. Es ist unvorstellbar dass ich vor genau
14 Tagen zusammen mit meinen drei Mitfreiwilligen aus unserem Flieger gestiegen
bin und wir von zwei Brasilianern zu unserem neuen Zuhause gebracht wurden, das
wir uns zunächst mit einer Französin teilen würden. Ein Moldawier (auch wenn
uns zunächst Glauben gemacht wurde, es handele sich um einen Russen) trug dabei
unsere Koffer nach oben. Große Koffer waren es, denn keiner von uns konnte einschätzen,
was genau auf uns zu kam.
Hitze kam auf uns zu, soviel steht schonmal fest, und unglaublich
viele Eindrücke, die jeden Tag meine Sinne fluten.
Überall gibt es etwas neues zu sehen, zu riechen, zu lernen und zu
organisieren, sodass mein Gehirn manchmal gar nicht mit der Verarbeitung
hinterherkommt.
Um dem Ganzen ein bisschen eine Form zu geben, werde ich deshalb
versuchen, meine Erlebnisse in Unterpunkte zu unterteilen.
Fangen wir mit der Wohnsituation an, denn schließlich war unser
Apartment so ziemlich das erste, was wir von Israel zu sehen bekommen
haben.
Bis zum letzten Samstag haben wir uns die Wohnung mit Charlene,
der oben erwähnten französischen Freiwilligen geteilt. Der Ankomm-Prozess wurde
dadurch leider ein bisschen erschwert, da wir unsere eigentlichen Zimmer
zunächst nicht beziehen konnten.
Das hat dazu geführt, dass Konstantin in einem Raum von der Größe
von 1 1/2 Matratzen und ich abwechselnd auf einer Matratze auf dem Boden oder
einer der etlichen Couches gepennt habe.
Auch wenn das zwischenzeitlich etwas anstrengend wurde, haben wir
alle wohlbehalten überlebt und können uns jetzt, ab dem letzten Shabbat so
einrichten, wie es uns passt. Ob das so bleiben wird, wissen wir aber auch noch
nicht genau, denn irgendwann, wird laut unserer Sozialarbeiterin irgendeine
männliche Person eines uns unbekannten Alters, aus einem uns unbekannten Land
zu uns stoßen und dann müssen wir noch einmal schauen, wie wir uns
arrangieren.
Ich für meinen Teil freue mich aber darauf, jemand Neuen in unsere
Clique aufzunehmen.
An der Wohnung selber habe ich schnell festgestellt, dass ich mich
nicht mehr in Deutschland in meinem wohlbehüteten Zuhause befinde. Oder, wie es
die Ehemaligen auf dem Ausreiseseminar in Solingen ausdrückten: ‘Eure jetzigen
Standards könnt ihr da nicht erwarten.’ Wir waren also vorgewarnt. Wie viele
Freiwilligen-Generationen das Apartment vor uns schon genutzt haben, weiß ich
nicht genau, aber dass es einige gewesen sein müssen, sieht man ihm an.
Graffitis zieren neben teils verruchten Stickern einige Fenster, sowie Türen
und den Kühlschrank und das Mobiliar hat seine besten Tage zum Großteil bereits
hinter sich gelassen. Was in den ersten Tagen für mich die Fremde in diesem
Land verkörpert hat, macht mittlerweile den Charme der Wohnung aus, die Tag für
Tag mehr zu meinem Zuhause wird und durch unsere Gestaltung und diverse
Umräumaktionen einen persönlichen Touch bekommt. Ein Besuch bei Ikea durfte da
-typisch deutsch- natürlich nicht fehlen und im nächsten Schritt ist geplant,
Sofas und Wände mit bunten Tüchern auszustatten.
Wir haben zudem ein paar lustige, aber auch ein paar eher unschöne
Dinge gefunden, deren Details ich euch jetzt lieber erspare. Mit etwas Abstand
sehe ich das jedoch nur noch halb so wild. Letztendlich, und auch wenn es etwas
(okay, deutlich) länger dauert, als in Deutschland, lässt sich alles regeln und
lösen. Und manche Probleme lösen sich auch ganz von alleine ;)
Tel Aviv ist groß. Tel Aviv ist laut. Tel Aviv ist voller
Menschen. Und nicht nur Tel Aviv, sondern auch die Städte drumherum, zum
Beispiel Petah Tikva, der Vorort in dem wir leben. Und um irgendwo hinzukommen,
muss man Zeit einplanen. Viel Zeit.
Das hat Vor- und Nachteile. Ein Vorteil: Wenn der Bus in die
Innenstadt mal wieder im Stau feststeckt und so oder so alle 20 Meter an einer
Haltestellen anhält (und das von null auf hundert und je nach Busfahrer ohne
Rücksicht auf Verluste), ist man schlichtweg gezwungen, die Hektik, die man aus
seinen alten Strukturen mitgebracht hat, abzulegen. Das Prinzip von ‘Zeit ist
Geld’ funktioniert hier einfach nicht so gut, vor allem wenn man auf die
öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen ist. Aber irgendwie hat das auch etwas
Entspannendes. Man kommt an, wenn man ankommt und sich ständig darüber Gedanken
zu machen, dass man grad schon wieder unglaublich viel Zeit in eine Busfahrt
investiert, führt absolut nirgendwo hin.
Der Nachteil: Manchmal mache ich es trotzdem, denn Zeit ist
vielleicht nicht Geld, aber Zeit ist auf jeden Fall
‘Einen-Markt-entlang-bummeln’ und ‘Am-Strand-liegen’. Zeit sind Erlebnisse und
zwei Stunden im Bus, sind zwei Stunden weniger das Leben draußen
genießen.
Glücklicherweise steht uns jetzt ein Fahrrad zur Verfügung und ob
man es glaubt oder nicht, laut Google ist man damit je nach Strecke schneller
am Ziel als mit dem Bus. Ob das stimmt, werden wir bestimmt in den nächsten
Wochen noch herausfinden, aber die vielen Menschen auf ihren (Elektro-)Rädern
und E-Rollern sprechen für sich.
Täglich kurz vor 7 steigen wir aus dem Bus der Linie 49 aus, und
laufen über einen großen Parkplatz zum Kfar Ofarim, ein ziemlich großes
Gebäude, das Zuhause für über 70 Erwachsene mit Autismus ist. Zu dem Komplex
gehört ein kleines Schwimmbad und ein Fitnessraum, die Wohnräume und das
Day-Centre, in dem ich meine meiste Arbeitszeit verbringe.
Morgens helfe ich aber zunächst für etwa eine Stunde dabei, die
Friends (oder Chawerim auf Hebräisch), wie die Bewohner genannt werden, auf
ihren Tag vorzubereiten. Hier fällt es mir oft noch schwer, mich einzubringen,
denn die Betreuer in dem Haus, in das ich eingeteilt wurde, sind ein
eingespieltes Team und haben ihre gefestigte Routine, in die ich noch nicht so
ganz reinpasse.
Anders ist das dann im Cheder Lavan (im weißen Zimmer). Hier
verbringe ich die restlichen sechs Stunden meiner Schicht zusammen mit zwei
anderen Mitarbeitern und je nach Tag zwischen vier und neun Friends. Die
Hauptbeschäftigung besteht daraus, kleine Bauteile für Elektronik
zusammenzuschrauben und zu verpacken, aber natürlich sind nicht alle immer 100%
zum arbeiten motiviert. Es bleibt also viel Raum, um andere Dinge zu tun, Zeit
zum rumalbern und quatschen. Wir essen mit unseren Gruppenmitgliedern, helfen
gelegentlich auch bei ihrer Arbeit aus, wenn etwas unbedingt fertig werden muss
und manchmal schimpfen wir auch mit ihnen, zum Beispiel wenn Leah schon wieder
einen Apfel aus dem Schrank geklaut hat, den sie eigentlich erst später kriegen
sollte.
‘Besonders die kleinen Sachen bereiten sehr viel Freude, wenn man
im Kfar arbeitet’, haben uns die Ehemaligen auf dem Ausreiseseminar gesagt. Für
mich klang das nach einem schönen Satz aber richtig verbinden konnte ich mich
damit nicht. Wenn jeder vor mir diese kleinen Dinge schon mal erlebt hat, es
also ziemlich normal ist, dann ist es eben auch nicht mehr so besonders, dachte
ich. Bis Yuval eines Nachmittags auf einmal im Flur steht, mich anschaut und
völlig aus dem Nichts meinen Namen sagt. Davor war er immer total verzweifelt,
wenn ich ihn wieder einmal fragte, wie ich heiße und er es nicht mehr sagen
konnte.
Bis Eran strahlend nach immer mehr Flaschen verlangt, von denen er
das Label entfernen kann (das war die letzten paar Tage unsere Arbeit mit den
Friends, hunderte von Flaschen wurden dann mit neuen Labels für ein Festival
versehen), obwohl er eigentlich nie gerne arbeitet und der Guide meinte, er sei
zu dieser Arbeit nicht im Stande.
Mehrere Einkaufswagen haben wir so mit entlabelten Wasserflaschen
füllen können.
Doch, es sind die kleinen Dinge, die diesen Job bereits nach
kurzer Zeit so unendlich erfüllend machen. Es ist ein Lächeln, ein hebräisches
Wort, dass du zum ersten Mal verstehst, ein Friend, der deine Hand nimmt.
Es ist schlichtweg überwältigend und unmöglich zu beschreiben, was
es mit mir macht, da zu sein.
Klar, manchmal sitze ich auch rum und habe nichts zu tun, weil
sich jeder in meiner Gruppe gerade mit sich selber beschäftigt und auch das ist
okay. In solchen Momenten zücke ich dann meistens ein kleines Hebräisch-
Wörterbuch und versuche, noch weiter in diese Welt vorzustoßen. Und auch das
gelingt mir jeden Tag besser. Zudem eröffnen mir die Erfolge mit der Sprache
einen umso besseren Zugang zu den Bewohnern, die nämlich fast alle nur
Hebräisch verstehen.
Es ist eine positive Aufwärtsspirale und ich freue mich im Moment
wirklich jeden Tag darauf wieder ins Kfar zu gehen, um neue Dinge zu erleben
und vor allem die Friends noch besser kennenzulernen.
Ich kann euch natürlich nicht alles erzählen, denn der Trubel, der
gerade mein Leben ist, bietet viel zu viele Geschichten und viel zu wenig Zeit,
alles aufzuschreiben. Ich hoffe aber, ich habe ein paar Sachen abgedeckt, die
spannend für euch sein könnten. Wenn euch aber bestimmte Dinge interessieren oder
ihr Fragen zu meinem Leben hier habt, könnt ihr mich gerne anschreiben.
Grüße nach Hause aus Petah Tikva,
Mileen :)